Was ist die Ursache des Leidens? Oder, warum tun wir uns manchmal schwer mit Veränderung?
Das Yogasutra nach Patanjali zeigt mit bestechender Einfachheit das ursächliche Prinzip des menschlichen Dilemma auf.
Für viele Menschen hört sich der Kernsatz des Buddhismus „Leben ist Leiden“ zu hart an. Am Ende des Tages fallen uns sicherlich einige Dinge schwer – dennoch ist der Genuss des Lebens doch viel zu schön. Eine laue Sommernacht mit dem Duft einer Jasminblüte, eine spontane Begegnung mit einem alten Freund oder einfach nur ein unerklärliches Gefühl von Freude. Und für den Moment fühlt sich alles richtig an. Doch kennst du nicht auch die Momente, in denen wir tiefe Traurigkeit empfinden, mit Trauer einen geliebten Menschen gehen lassen müssen oder wir gar selbst eine todbringende Diagnose bekommen haben? Momente, in denen wir spüren, dass wir nichts konservieren können. Kein Duft lässt sich einfangen und für ewig halten. Jedes Glück wandelt sich früher oder später in ein gegenteiliges Gefühl von Sorge und Schwere.
Ich denke, dass es Mut braucht zu erkennen, dass wir zerbrechlich sind. Dass wir keine weltliche oder dingliche Sicherheit aufbauen können. Ich beobachte abwehrmechanismen als erste Reaktion auf den Ausspruch: Leben ist leiden. Ich beobachte ein Nicht-wahrhaben-wollen. Eine Angst die vermeintliche Sicherheit loslassen zu müssen und zu “fallen“.
Der einzige Ort, in den wir hineinfallen werden, ist der Ort absoluter Geborgenheit. Früher oder später fallen wir alle zurück in die Verbindung mit dem kosmischen Bewusstsein. Das ist das Tao der Erscheinungen. Die Welt der dualen Realität spielt ihre eigenen Regeln, die wir als Individuum nicht kontrollieren können. „Geliebtes Herz, gebe dich dem Fluss des Lebens hin. Lass dich von den Täuschungen der Erscheinungen nicht verwirren.“
Zurück zum Yogasutra: warum leiden wir? Patanjali postuliert fünf kleshas.
Zunächst einmal unterliegen wir einem kollektiven, universellen und intrinsischen Trugschluss. Einem grundlegenden Missverständnis, das die alten Weisen avidya nennen. Es meint das Nicht-Wissen. Die grundlegende Verblendung, dass wir getrennt sind von dem All-Einen. Im Kern missversteht der Geist die innere Ordnung des Kosmos, da er nicht anders kann. So wie man mit einem Löffel nicht schneiden kann, operiert der menschliche Geist mit einem anderen System. Per se vermag er die Einheit nicht verstehen, da ihm grundsätzlich die Fähigkeit dazu fehlt.
Aus dieser Betrachtung des Getrenntseins entsteht asmita – unser Ich. Ab diesem Moment gibt es das Ich und das Du, das Wir und das Ihr. Und dazwischen entstehen all die Schattierungen des Empfindens, des Meinens und Behauptens. Wir organisieren uns in Zugehörigkeiten, formieren Gruppen und Parteien und folgen zwei weiteren kleshas, die uns antreiben: raga und dvesha – mögen und nicht-mögen. Wir wollen das eine und lehnen das andere ab. Mal heftiger, mal lassen wir uns überzeugen und mitreißen. Grundsätzlich aber folgen wir dem inneren Prinzip von Attraktion und Ablehnung. Wir teilen die Welt unbewusst in das auf, was wir haben wollen und was wir nicht haben wollen – persönlich, politisch und gesellschaftlich. Auf allen Ebenen der Interaktion mit uns selbst oder mit dem „außen“ greift dieser Mechanismus.
Eine besondere Form des „haben-Wollens“, dem raga, stellt die fünfte Form der kleshas dar: abinivesha. Das Festhalten am Leben oder anders ausgedrückt: die Angst vor dem Sterben.
Es sind fünf kleshas, die uns Klarheit in den Momenten des Lebens schenken, in denen wir uns festgefahren haben. Es sind jene Momente, die sich besonders heftig anfühlen, die uns eine besondere Chance des Erkennens bieten.
Als Teil spiritueller Praxis hilft uns die Kontemplation über die fünf kleshas unsere Angst zu überkommen und schließlich den Irrtum der Getrenntheit abzulegen.
Practice….